Am 10. Juni 1944 hatten Angehörige der SS-Division „Das Reich“ das Dorf Oradour-sur-Glâne vernichtet. Sie ermordeten 643 Männer, Frauen und Kinder und brannten Häuser, Scheunen und die Kirche nieder. Nur wenige überlebten. Die Mörder wurden nicht bestraft.
Es gibt gute Gründe an Oradour zu erinnern. Die fehlende juristische Aufarbeitung ist eine deutsche Angelegenheit. Oradour belastet aber auch das innerfranzösische Verhältnis und die deutsch-französischen Beziehungen. Spannungen und gegenseitiges Unverständnis sind größer, als man in Deutschland meist zur Kenntnis nimmt.
Zum 80. Jahrestag besuchte am 10. Juni Frank-Walter Steinmeier den Ort. 2013 wurde erstmals ein deutsches Staatsoberhaupt, Joachim Gauck, empfangen. Der Staatspräsident Emmanuel Macron begrüßte Frank-Walter Steinmeier vor der Zeremonie am staatlichen Centre de la Mémoire. Bei der Zeremonie sprachen die beiden Politiker über die Schrecken der damaligen Zeit. Beide betonten die deutsch-französische Freundschaft und deren Wichtigkeit und dies einen Tag nach den Europawahlen. Der Bundespräsident hielt seine Rede auf Französisch und beeindruckte die französischen Kollegen: „Er nannte das Datum, die Zahl der Opfer, sowie den Namen der Division. Außerdem sprach er über die ungesühnten Verbrechen. All das gefiel mir. Und das Wichtigste, er sagte, dass die Landung in der Normandie sowohl Frankreich als auch Deutschland befreit habe. Außerdem scheute er sich nicht über die Europawahl zu sprechen. Das tat gut.“ (Stéphane Pir; französischer Lehrer)
WEG Schüler*innen gedenken in Oradour
Schüler*innen des Politik-und-Gesellschaft-Kurses von Sandra Butsch des Walter-Eucken-Gymnasiums und Kaufmännische Schulen I aus Freiburg und Schüler*innen von Stéphane Pir des L’EREA, eine Schule für Schüler*innen mit besonderen Bedürfnissen, aus Illkirch-Graffenstaden im Elsass wurden vom Bürgermeister von Oradour-sur-Glâne zu der Gedenkveranstaltung eingeladen. Vor dem Hintergrund der bis heute andauernden Unstimmigkeiten und tiefen Gefühle in Bezug auf das deutsch-französische, aber auch auf das innerfranzösische Verhältnis in Oradour, war dies Verantwortung und Ehre zugleich.
Schüler*innen der Umgebung präsentierten im Vorfeld der Veranstaltung ihre Beiträge. Dabei war ein sehr emotionaler Moment die Interpretation des John Lennon-Songs „Imagine“. Alle anwesenden Jugendlichen stimmten beim Refrain ein.
Die Schüler*innen aus Illkirch-Graffenstaden und Freiburg legten unter anderem in traditionellen Trachten einen gemeinsamen Kranz nieder und waren bei den Fahnenträgern dabei. Monsieur Lacroix, der Bürgermeister von Oradour, begrüßte die Gruppe herzlich, bedankte sich bei den Jugendlichen und nahm die Gastgeschenke entgegen. Auch die Begegnung mit der Enkelin des letzten Zeitzeugens von Oradour, Agathe Hébras, war innig und interessant zugleich. Sie stellte den Jugendlichen ihre neu erschienene Graphic Novel „Le dérnier témoin d’Oradour-sur-Glâne“ vor und zeigte sich bereit, nach Baden und ins Elsass zu kommen, um eine Lesung und einen Vortrag anzubieten.
Zusammenarbeit der deutsch-französischen Jugendgruppe
Die deutsch-französische Jugendgruppe arbeitet seit November 2023 zusammen. Bei einer Großveranstaltung in Illkirch-Graffenstaden am 26. März 2024 präsentierten die Schüler*innen der beiden Schulen zusammen mit 28 angereisten Schüler*innen aus Saint-Junien (einem Nachbarort von Oradour) ihre historischen Arbeiten aus unterschiedlichen Perspektiven vor Vertretern aus der Politik und der Armee des Oberrheins.
Am Tag nach der Zeremonie in Oradour präsentierten die Jugendlichen aus dem Elsass und aus Baden ihre Arbeiten vor Schulklassen der Schulen in Tulle. In Tulle wurden am 09. Juni 1944 99 Männer durch die Division „das Reich“ zur Abschreckung massakriert. Die Bevölkerung musste zusehen, wie diese zan Laternenpfählen und Balkongittern aufgehängt wurden. Weitere 149 Einwohner wurden verhaftet und deportiert, 101 starben.
Die Schüler*innen diskutierten mit ihren französischen Gastgebern im Anschluss das Ergebnis der Europawahl und brachten ihre Ängste und Sorgen, aber auch ihre Ideen zu Widerstand und Engagement zum Ausdruck. Die Sorgen und die Einsicht in die Notwendigkeit von Demokratie in den beiden Ländern und in Europa waren dieselben.
Am letzten Tag ging es dann nach Angoulême. Bereits im Juli 1938 hatte der Präfekt des Département Charente den Bau eines Lagers angeordnet. Ab Juli 1939 wurden im Camp „Les Alliers“ republikanische Spanier interniert, die nach dem Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg nach Frankreich geflohen waren. Nach dem deutschen Sieg im Westfeldzug wurden hauptsächlich aus diesem Lager bereits am 20. August 1940 927 sogenannte Rotspanier nach Mauthausen, Richtung Osten deportiert. Der Transport nach Mauthausen war der Erste, der von französischem Boden ausging. Später wurden unter anderem etwa 60 aus Lothringen ausgewiesene Sinti und Roma im Camp interniert, über die Hälfte davon waren Kinder.
Die Jugendlichen aus dem Elsass und Baden brachten Erde aus dem elsässischen Konzentrationslager Natzweiler Struthof mit und gedachten an der Plakette am Denkmal für Deportierte auf dem Bahnhofsplatz von Angoulême den Deportierten ins Elsass.
Tief bewegt und betroffen ist für die Jugendlichen eines klar: Begegnung und Geschichtsvermittlung sind wichtig. Es geht um die Zukunft, eine hoffentlich bessere Zukunft.
Wir danken recht herzlich dem Bürgermeister von Oradour-sur-Glâne, Monsieur Lacroix, für seine Einladung, allen Menschen für ihre Offenheit und Gesprächsbereitschaft, den teilnehmenden Schulen und Schulleitungen für die Kooperation, den Städten Illkirch-Graffenstaden und Freiburg und ganz besonders Alsace Collectivité Européenne für die finanzielle Unterstützung. So sollte Erinnern für die Zukunft aussehen.
S. Butsch
Historischer Hintergrund:
Es war das schlimmste Massaker, das deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg in Westeuropa verübten. So gut wie alle Täter entgingen einer Verurteilung, was bis in die Gegenwart hineinwirkt.
Oradour ist eine Stadt und ein Gedenkort 200 km nordöstlich von Bordeaux. Während des Zweiten Weltkrieges, am 10. Juni 1944, verübte die SS-Panzerdivision „das Reich“ ein grauenvolles Kriegsverbrechen, bei dem der Ort vollständig zerstört und fast alle seine Einwohner ermordet wurden. Nach dem Krieg wurde neben dem zerstörten alten ein neuer Ort aufgebaut. Den Überresten des alten Dorfes ist heute eine Mahn- und Gedenkstätte mit einem Dokumentationszentrum angeschlossen.
In einem Prozess 1953 wurden in Frankreich 21 SS-Soldaten wegen der Teilnahme an dem Massaker teils zum Tode, teils zu Haftstrafen verurteilt.14 SS-Leute stammten aus dem Elsass. Bis auf einen verstanden sich diese als Zwangsrekrutierte und beriefen sich darauf, selbst Opfer eines Kriegsverbrechens geworden zu sein. Die Todesstrafen wurden in Haftstrafen umgewandelt und die letzten Verurteilten 1959 entlassen. In der BRD wurden zwei Ermittlungsverfahren eingeleitet, jedoch niemand angeklagt und die Verantwortung dem 1944 kurz nach dem Massaker in der Normandie gefallenen SS-Offizier Adolf Diekmann zugewiesen. 1983 wurde in der DDR mit Heinz Barth ein beteiligter SS-Offizier unter anderem wegen des Massakers zu lebenslanger Haft verurteilt. Für die elsässischen SS-Soldaten gab es eine Amnestie. Die Hinterbliebenen in Oradour lehnten jahrzehntelang jeden offiziellen Kontakt zu Deutschland und selbst zu staatlichen französischen Denkmälern systematisch ab und bevorzugten ihr eigenes Gedenken.